Reinhold Lindner, Freie Presse, 24. Jan 2012 

Arme aber wahre Menschen – reine Gefühlssache: In der Inszenierung der Oper „La Bohème“, die am Sonntag in Annaberg Premiere hatte, zeigt sich der Gefühlsreichtum dieser populären Oper Puccinis in vollen Zügen. Regisseurin Birgit Eckenweber geht an die Grenze des Sentimentalen, aber überschreitet sie nicht.

Hunger, Kälte, Krankheit und Tod sind die äußeren Zwänge der Existenz junger Menschen – Zwänge, denen ihre wahre Freundschaft, Liebe, auch ihr Humor widersteht. Der Tod ist zwar nicht bezwingbar, das Sterben Mimìs, einer jungen Näherin, ist der erschütternde Schluss der Oper, aber der Zusammenhalt bewährt sich nun erst recht. (…) Die Bohèmiens widersetzen sich ihrer Armut durch inneren Reichtum an Gefühl, an Charakter. Wer auch nur irgendwie zu einem Bissen kommt, teilt ihn mit den anderen. Es ist diese Folge des Elends, die berührt.

Musiktheater, wenn es gut ist, muss glauben machen, dass es wahr ist, was da auf der Bühne geschieht. Der Realismus der Geschichte bindet sich dabei an Charaktere. Wen friert es da nicht, wenn der Dichter Rodolfo für einen Hauch Wärme die Manuskriptblätter seines neuen Dramas in den Ofen wirft, wer könnte ungerührt zusehen, wenn der Philosoph Colline seinen geliebten Mantel versetzt, um Medizin für die todkranke Mimì zu besorgen? Dass das alles nun eindringlich gesungen wird und aus der Orchestermusik heraus emotional gestützt wird, kann gar nicht anders sein. So entsteht Wahrhaftigkeit – und sie ist den Sängerinnen und Sängern, dem Dirigenten wie dem Orchester anvertraut. Mimì und Rodolfo müssen ganz hoch hinaus in ihrem Liebesduett. Dieses Paar aber macht nie den Eindruck einer erzwungenen Haltung, sondern eben jener Natürlichkeit der Situationen. Es ist tatsächlich dieser Eindruck von Selbstverständlichkeit, den alle zusammen dieser Inszenierung verleihen. Die anderen Solisten und der Chor (in Gesang wie lebendiger Darstellung, nicht zuletzt der Kinder), die ideenreiche Ausstattung mit knappen, aber sehr charakteristischen Bildern, alles stimmt überein.